Dr. med. Walter Heinemann
- Mitglied seit 1926
- Geflohen 1936, USA
- Braunschweig
- Facharzt für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten
„Ich, Walter Heinemann, wurde am 16. August 1883 zu Braunschweig als Sohn des Kaufmanns Berthold Heinemann und seiner Ehefrau Fanny, geb. Kunstmann geboren. Ich bin jüdischer Religion. Nachdem ich von Michaelis 1889 bis Michaelis 1892 die Privatschule Dr. Jahn in Braunschweig besucht hatte, bezog ich das herzogliche Neue Gymnasium [heute Wilhelm-Gymnasium Braunschweig, Anm. H Je] daselbst, das ich Michaelis 1901 mit dem Zeugnis der Reife verließ. Ich widmete mich dem Studium der Medizin und studierte von Michaelis 1901 bis April 1904 an der Universität Berlin, wo ich im Februar 1904 mein ärztliches Vorexamen bestand. Nachdem ich ein Semester lang in München studiert hatte, vollendete ich meine Studien bis Michaelis 1906 in Berlin. Hier bestand ich mit dem 25. März 1907 die ärztliche Staatsprüfung“, so Walter Heinemann im Lebenslauf in seiner Dissertationsschrift.
Im Juli 1907 wurde er mit der Arbeit Ueber Hemiatrophia faciei an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig promoviert. Die Arbeit hatte er auf Anregung und mit Unterstützung des Berliner Neurologen Kurt Mendel angefertigt. Kurt Mendel war durch seinen Vater, den bekannten Neurologen und Psychiater Emanuel Mendel geprägt, der in Berlin eine renommierte Poliklinik für sein Fachgebiet leitete und an der Berliner Universität lehrte. Im April 1908 erhielt Heinemann die ärztliche Approbation.
Ausbildung und Wirkungsstätte
Als Medizinalpraktikant arbeitete er jeweils sechs Monate am Institut für Pathologie des Berliner Städtischen Krankenhauses Moabit sowie in der Medizinischen Klinik des Rudolf Virchow Krankenhauses (RVK) in Berlin bei Alfred Goldscheider. Danach wechselte er als Volontär, später als Assistenzarzt, zu Georg Jochmann, der als Internist am Berliner RVK die dortige Infektionsabteilung leitete. 1909 kam es zwischen Heinemann und Robert Koch auf der Tuberkuloseforschungsstation des RVK zu einem kurzzeitigen direkten Arbeitskontakt im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Piquet-Hautreaktion. Gemeinsam mit Bernhard Möllers, dem letzten persönlichen Assistenten Robert Kochs, publizierte Heinemann über die stomachale Anwendung von Tuberkulinpräparaten. Während für ihn anfänglich Fragestellungen aus dem Gebiet der Bakteriologie im Vordergrund standen, prägte ihn seit 1910 die Tätigkeit bei Leopold Kuttner, der die Leitung der Ersten Medizinischen Klinik am RVK übernommen hatte. Kuttner – in jener Zeit neben Ismar Boas, Hermann Strauß und Theodor Rosenheim führender Magen-Darm-Spezialist in Berlin – weckte Heinemanns Interesse für das neue Fachgebiet der Gastroenterologie. Nach Abschluss seiner internistischen Ausbildung war Heinemann für kurze Zeit in der Poliklinik für Chirurgie am Jüdischen Krankenhaus Berlin bei Ferdinand Karewski tätig, um einen Einblick in die „kleine Chirurgie“ zu erhalten.
Im Februar 1912 ließ sich Walter Heinemann in seiner Heimatstadt Braunschweig zunächst als praktischer Arzt nieder. Die Praxis wandelte er kurze Zeit später in eine Spezialpraxis für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten einschließlich eines Röntgenlabors um.
Während seiner Ausbildung bei Leopold Kuttner beschäftigte sich Heinemann frühzeitig und eingehend mit der Röntgendiagnostik des Magen-Darm-Traktes, insbesondere der Röntgendarstellung der Gallenblase. Das damals noch junge Röntgenverfahren erlaubte erstmalig die Visualisierung der Gallenblase und eventuell vorhandener Konkremente.
Seine Praxisarbeit wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Zu Beginn des Krieges konnte er in einem Reservelazarett in Braunschweig als „vertraglich verpflichteter Zivilarzt“ tätig sein und seine Praxis teilweise fortführen. Im Februar 1916 heiratet Heinemann die aus Braunschweig aus einer Bankiersfamilie stammende Elsa Johanna Herz. 1917 wird die Tochter Eva Sophie, 1919 der Sohn Fritz Hugo geboren.
Vom Oktober 1916 bis 1918 war Heinemann als Sanitätsoffizier an der Somme in Frankreich, in Flandern sowie in den Karpaten am Krieg beteiligt. Nach dem Weltkrieg entwickelte sich Heinemanns Facharztpraxis rasch erfolgreich weiter, zumal wegen seiner Spezialisierung in der Gastroenterologie und wegen der von ihm umfangreich angewandten Röntgendiagnostik. Die Praxis verfügte über einen weiten Einzugsbereich mit einem großen Kreis zuweisender Ärzte und Ärztinnen deutlich über das Braunschweiger Land hinausreichend.
Walter Heinemann war im ärztlichen Kreis- und Landesverein Braunschweigs aktiv und beteiligte sich mit eigenen Vorträgen an der Fortbildung. Zudem war er als Repräsentant in die Arbeit der Jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt einbezogen und wurde in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in das Amt des Vorsitzenden der Gemeinde als Nachfolge Bruno Mielziners gewählt. Dieses Amt behielt Heinemann bis zu seiner Flucht nach Palästina Anfang November 1935. Er setzte sich aktiv für Neuerungen ein. So erreichte er das Wahlrecht für die zugezogenen nicht-deutschen jüdischen Gemeindemitglieder und das Wahlrecht für die Frauen in der Braunschweiger jüdischen Gemeinde. Ferner übernahm er den Vorsitz der Leopold Zunz Loge in Braunschweig.
In besonderer Weise engagierte sich Walter Heinemann in den 1920er Jahren für die Gründung einer reformpädagogisch orientierten Versuchs- und Arbeitsschule sowie für ein Schullandheim. An der Erarbeitung einer Satzung (1926) für diese Institution war er führend beteiligt. Zudem übernahm er das Amt des Vorsitzenden des „Schulvereins der Braunschweiger Versuchsschule“.
1933
Im damaligen Freistaat Braunschweig war es bereits in den 1920er Jahren zu antisemitischen Vorfällen gekommen. Bei Wahlen 1930 erhielten die Nationalsozialisten 22 % der Stimmen und waren fortan an einer Koalitionsregierung beteiligt. Dem Boykott der ärztlichen Praxen der jüdischen Ärzte am 1. April 1933 durch die Nationalsozialisten folgten für Walter Heinemann der Entzug der Kassenzulassung und die ausbleibende Zuweisung der Patienten durch „arische“ Kolleginnen und Kollegen. Als Jude wurde Heinemann am 13. April 1933 von den Nationalsozialisten willkürlich verhaftet und sechs Tage in sogenannter Schutzhaft im Kreis- und Untersuchungsgefängnis Braunschweig festgehalten. Seine Entlassung erfolgte nach tatkräftiger Intervention des Internisten Adolf Bingel, der seit 1910 Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin am Herzoglichen Krankenhaus Braunschweig war. Die Familie Heinemann wird das Ehepaar Bingel nach 1945 von New York aus mit Care Paketen unterstützen.
Heinemann hat mit Klar- und Weitsicht frühzeitig die Folgen der Politik der Nationalsozialisten vorausgesehen und in zahlreichen Briefen an bekannte jüdische Repräsentanten formuliert. Als bekannt wurde, dass die jüdischen Mediziner und Wissenschaftler die Fachgesellschaften verlassen mussten und ihnen die Herausgeberschaft der Fachzeitschriften entzogen wurde, plädierte er in Schreiben vom August 1933 u. a. an den Rabbiner Leo Baeck und den Chirurgen Paul Rosenstein im Jüdischen Krankenhaus Berlin für die rasche Gründung einer eigenen Deutsch-Jüdischen Medizinischen Wochenschrift innerhalb des Kulturbundes Deutscher Juden (Letters regarding the creation of a jewish scientific journal 1933 – 1935, Walter Heinemann Collection, LBI AR 865). Mit seinem Vorschlag konnte Heinemann sich nicht durchsetzen.
Der 1919 geborene Sohn Fritz Hugo Heinemann wurde Ende 1933 zu seinem Schutz und zum weiteren Schulbesuch nach Frankreich geschickt. Der Sohn fand in Paris als Ansprechpartnerin seine Tante Valsesca, die Schwester seines Vaters, die mit ihrem damaligen Ehemann Deutschland 1933 wegen antisemitischer Anfeindungen frühzeitig verlassen hatte. Für Fritz Heinemann war der weitere Schulbesuch in Braunschweig wegen antisemitischer Attacken unerträglich geworden. [Er wird später nach England und im Januar 1939 in die USA gelangen. Er nannte sich seither Peter Hart. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er nach England zurückkehren und in London als Verleger tätig sein].
Die 1917 geborene Tochter Eva Sophie verließ am 1. 6. 1934 Braunschweig, „da ihr der Besuch der Schule dort nicht mehr zuzumuten war“, wie Heinemann in seinem Entschädigungsantrag 1953 schrieb (Niedersächsisches Landesarchiv, Entschädigungsakte Band 1, Bl. 3).Sie fand Zuflicht in Großbritannien und kontne als au pair bei britischen Verwandten tätig sein.
Heinemann war gezwungen, 1935 seine Praxis in Braunschweig aufzugeben, seine Praxiseinrichtung sowie das Wohnungsmobiliar einschließlich des Blüthner Flügels zu verkaufen und Deutschland zu verlassen.
Flucht über Palästina und England in die USA 1935 / 36
Am 7. November 1935 in Braunschweig offiziell abgemeldet, gelangte der 52-jährige Walter Heinemann gemeinsam mit seiner 81-jährigen Mutter zunächst nach Paris und von Marseille mit der S.S. Mariette Pacha nach Haifa / Palästina. Ein Visum für die Einreise nach Palästina hatte er über das britische Konsulat in Berlin erhalten. In den folgenden sechs Monaten wurde ihm bewusst, dass sein Ziel, in Tel Aviv / Jaffa eine einträgliche ärztliche Praxis zu gründen, nicht realistisch war. Heinemanns Mutter Fanny kehrte nach kurzer Zeit aus Palästina über Paris nach Braunschweig zurück. Er selbst wechselte für kurze Zeit nach England, traf in London seine Ehefrau und Tochter, erhielt ein Affidavit für die USA und erreichte von Southampton aus mit dem Transatlantikschiff Georgic der britischen Cunard White Star Line am 7. Juni 1936 New York. Seine Ehefrau Elsa Heinemann folgte ihm aus England mit der SS Bremen im Dezember 1936 nach New York. Die Tochter Eva Heinemann erreichte am 15. Juli 1937 ebenfalls von Southamptom aus und auch mit der SS Bremen, die USA und war als Krankenschwester im New York Hospital (heute Weill Cornell Medical Center) tätig.
Nach Sprachprüfungen und Ablegen des amerikanischen Examens erhielt Heinemann die Lizenz zur ärztlichen Tätigkeit im Bundesstaat New York und eröffnete 1937 eine Privatpraxis.
Er erreichte, die Bezeichnung Specialist in Gastroenterology führen zu dürfen, zudem etablierte er in seiner Praxis ein Röntgenlabor. Parallel war Heinemann zunächst 1937 als Volontär im Sydenham Hospital in Harlem tätig, in dem überwiegend Mitglieder der afroamerikanischen Gemeinde New Yorks versorgt wurden. Später war er in der Magen-Darm-Poliklinik des Departments für Innere Medizin an der New York Post-Graduate Medical School und Hospital, New York City, tätig und publizierte gemeinsam mit Zachary Sagal 1940 in Gastroenterologia „Kritische Betrachtungen zur Appendicitisfrage“.
Anschließend konnte Heinemann neben seiner Privatpraxis in der Abteilung Innere Medizin des Hospitals for Joint Diseases in Upper Manhattan als assistant adjunct in der Funktion eines Hilfsassistenten arbeiten.
Sein Engagement in den Institutionen setzte Heinemann in New York fort. So wurde er als Mitglied Anfang der 1950er Jahre in den Vorstand der Rudolf Virchow Medical Society in New York gewählt. In New York lernte Heinemann zahlreiche aus Deutschland geflohene Internisten kennen, so Leopold Lichtwitz und Rudolf Stern, den Vater des deutsch-amerikanischen Historikers Fritz Stern.
1960 besuchte Heinemann seine Heimatstadt Braunschweig. Fünf Jahre später hielt er sich erneut in Deutschland in Bad Wiessee zu einer Kurbehandlung auf.
Walter Heinemann starb 85-jährig am 14. 8. 1968 im St.Luke’s Hospital Center Manhattan in New York. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Ferncliff Cemetery, Hartsdale, New York. In der Zeitung Scarsdale Inquirer vom 22. August 1968 erschien ein kurzer Nachruf mit dem Hinweis auf Heinemanns Medizinstudium in Berlin und sein Engagement für die Leo Baeck Sektion der Loge B’nai B’rith in New York.
Seine Ehefrau Elsa Heinemann starb 1989 in New York.
Walter Heinemanns 87-jährige Mutter Fanny, geb. Kunstmann, sein 59-jähriger Bruder Ludwig und seine Schwägerin verloren ihr Leben in Holland am 13. Juni 1941 während eines britischen Luftangriffes auf die Stadt Gouda. Fanny Heinemann, die Mutter, war nach dem Novemberpogrom 1938 aus Braunschweig zu ihrem Sohn Ludwig nach Hannover gezogen und mit diesem aus Deutschland in die Niederlande geflohen.
Der Neffe Walter Heinemanns und Sohn seines Bruders Ludwig, Fritz Adolf Heinemann, wurde in Holland von der Gestapo verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort 20-jährig am 28. 2. 1943 ermordet.
Walter Heinemanns Schwester Valeska (geb. 1885) hatte den Frankfurter Unternehmer für chemisch-pharmazeutische Produkte Ernst Heymann geheiratet und war mit diesem bei Beginn der NS-Diktatur nach antisemitischen Angriffen nach Paris geflohen. Von dort gelangte sie 1938 in die USA, lebte fortan in Los Angeles und wurde unter dem Namen Lette Valeska eine bekannte Fotografin. Sie starb hochbetagt in Los Angeles 1985. Ihre fotographischen Arbeiten wurden 2023 in Braunschweig mit einer eindrücklichen Ausstellung gewürdigt.
In Braunschweig erinnern Stolpersteine vor dem Wohnhaus und der Praxis am Bruchtorwall 1 an die Familie Walter Heinemanns.
Danksagung
Suzan Goldhaber, New York, gebührt großer Dank für Ihre freundlichen und detaillierten Hinweise zur Biographie ihres Großvaters.
Meiner Kollegin Dr. med. Cornelie Haag, Dresden, danke ich für vielfältige Hilfen und für ihre Unterstützung. Dr. Benjamin Kuntz, Museum des Robert Koch Institutes Berlin, gebührt großer Dank für den Gedankenaustausch, der mit Heinemanns Beschäftigung mit der Tuberkulose begann.
Beitrag von Dr. med. Harro Jenss, Worpswede. Stand 17.3.2025
Quellen und Literatur
zu den Quellen








