Dr. med. Adolf Guttentag
- 04.12.1868, Breslau /Wroclaw
- 29.10.1942, Berlin
- Mitglied seit 1926
- Selbsttötung im Jahre 1942
- Stettin
- Spezialarzt für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten
„Ich, Adolf Guttentag, bin geboren am 4.12.1868 zu Breslau als Sohn des Kaufmanns Georg Guttentag und dessen verstorbener Ehefrau Ottilie, geborene Eckersdorff. Ich besuchte die Wanckel’sche Knabenvorschule und das Gymnasium zu St. Maria Magdalena zu Breslau, das ich zu Michaeli 1887 mit dem Zeugnis der Reife verliess. Von Michaeli 1887 bis Michaeli 1889 studierte ich in Breslau Medicin, von Michaeli 1889 bis Ostern 1890 in München, wo ich das Tentamen physicum absolvirte. Von 1890 bis Ostern 1892 studierte ich in Breslau und Heidelberg. In Heidelberg beendete ich am 17. Juli 1892 die ärztliche Hauptprüfung“, so Guttentag in seiner Dissertationsschrift. Die Familie Guttentag bekannte sich zur jüdischen Glaubensgemeinschaft.
Im Dezember 1893 wurde Adolf Guttentag an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig mit der Arbeit Ueber das Verhalten der elastischen Fasern in Hautnarben und bei Destructionsprozessen der Haut promoviert. Die Arbeit hatte er im Labor der Abteilung für Dermatologie des Allerheiligen Hospitals Breslau unter dem Primararzt Josef Jadassohn in der Dermatologischen Klinik von Albert Neisser angefertigt.
Ausbildung und Wirkungsstätte
Nach Studium, Militärpflicht und einem sechswöchigen freiwilligen Dienst begann Guttentag seine internistische Ausbildung in der Abteilung für Innere Medizin des Allerheiligen Hospitals Breslau, vermutlich bei dem Nachfolger Ottomar Rosenbachs. Rosenbach beendete seine Tätigkeit im Allerheiligen Hospital 1893.
Guttentags weitere Ausbildungsstationen sowie seine Spezialisierung sind bisher nicht dokumentiert. Ab 1896 ist er im Adressbuch Stettins als praktischer Arzt verzeichnet, ab 1901 mit der Bezeichnung Spezialarzt für Magen-Darmkrankheiten. In den Folgejahren wechselt er seinen Praxisstandort mehrfach innerhalb Stettins. Zuletzt praktiziert und wohnt er in der Kaiser-Wilhelm-Strasse 9.
Am 5. 2.1898 heiratet er in Posen, heute Poznan/Polen, Helene Pauly, Schwester der Ehefrau Prof. Ernst Neissers, des ärztlichen Leiters der Medizinischen Klinik am Städtischen Krankenhaus Stettin, mit dem er verbunden bleibt bis zu Neissers letzten Lebenstagen, wie Guttentag in seinem Tagebuch schildert.
Nach 1933
Guttentag und seine Ehefrau Helene waren seit dem April 1933 den antisemitischen Attacken durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. Am 24.1. 1934 wird ihm die Kassenzulassung entzogen, am 30.9.1938 die Approbation. Das Ehepaar verließ Stettin und lebte zunächst in Hirschberg, Jelenia Gora/ Polen. Danach wechselten sie nach Berlin.
Adolf Guttentag hat in einem Tagebuch für seinen Sohn Otto bewegend die Zeit der Verfolgung, ihre erbärmlichen Lebensbedingungen 1941 / 42 in der kleinen Berliner Wohnung in der Carmerstr. 5 und die Entscheidung zum gemeinsamen Selbstmord mit seiner Ehefrau beschrieben (Tagebuch Adolf Guttentag, United States Holocaust Memorial Museum, USHMM, Guttentag family papers, 2001.42, RG – 10.216 ).
Am 27. August 1942 berichtet er: „…gegen 1 Uhr alarmiert. Wir zogen uns an, legten alle Dokumente (Testamentabschrift, Begräbnisplatz mit Quittung, Einäscherungswille u.s.w.) und Kleidungsstücke zum Abwandern, auch alle Medikamente mit Eukodal Scopolamin-Spritze und genügend Veronal zurecht und…“,
am 6.09.1942: „Soll man zum Veronal greifen oder nicht? Die Zahl derjenigen, die vom Leben nichts mehr zu erwarten haben, wächst.“
Am 19.09.1942 wird die Bedrohung realer: „Es ist ein Tag wie der andere vergangen, ohne etwas zu schaffen. Heut früh aber erhielten wir unerwartet die Aufforderung unsre Personalien zu vervollständigen. Gleichzeitig erhielten wir eine Nummer Th N341/2. Th=Theresienstadt. Das heisst wir werden demnächst nach Theresienstadt evacuiert werden.“
Die Ungewissheit über den weiteren Verlauf drückt er am 22.09.1942 aus: „Wenn man das niedergeschrieben hat, wird jeder vernünftige Mensch fragen, lohnt es sich denn noch leben zu bleiben, wenn man ein schmerzloses Schlafmittel zum Einschlafen besitzt? Es ist immer wieder die Frage; wird der Spuk nicht bald ein Ende nehmen und kann man dann auf bessere Tage hoffen?“
Am 1. Oktober erhält er Nachricht über Ernst Neisser. „Nun hat das Geschick auch Onkel Ernst erreicht. Er erhielt gestern Nachmittag die Mitteilung, sich morgen früh ab 8 Uhr bereit zu halten, er würde abgeholt und abtransportiert werden. … Er war immer entschlossen, nicht mitzugehen… Vermutlich hat er nachts … Morph. gespritzt und Veronal eingenommen. Er wurde gestern noch ins Krankenhaus … überführt und hat heut früh noch gelebt… Er starb am 3. Oktober 42“.
Auch für Guttentag selbst und seine Ehefrau wird die Lage lebensbedrohlich. Er schreibt: „Am 12. Oktober kam die geheime Staatspolizei. Sie nahm unsere Wirtin mit Familie sofort mit ohne dass wir Grund wussten u. zuletzt verlangte sie unsere Kennkarten, nahmen sie uns ab und bestellte uns nach Burgstr. Zimmer 308. Das ist die Geh. Staatspolizei. Gefragt wurde noch, warum wir nicht evakuiert seien…“
und weiter: „…Vergesst nicht, dass wir immer an euer Bestes gedacht haben, dass aber unser Leben abgeschlossen ist. Wir hatten alles anders gedacht, aber es hat nicht sollen sein. …“
Der letzte Eintrag am 16.Oktober 1942 ist mit fast nicht lesbarer Schrift geschrieben: „Am 16. Oktober verstarb der Arzt Dr. Adolf Guttentag. Er hatte ein glückliches und schönes Leben.“
Guttentag und seine Frau wurden lebend aufgefunden und in die Klinik transportiert. Am 29. Oktober 1942 starb er 73- jährig an den Folgen der Intoxikation im Jüdischen Krankenhaus Berlin. Er wurde zusammen mit seiner Frau auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf bei Berlin beigesetzt.
1995 wurden von der Senatsverwaltung Berlin die Urnen innerhalb des Friedhofs in eine geschlossene Anlage mit Gräbern der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft verlegt.
Diese durch den Bund finanzierte Gräberanlage ermöglicht ein mahnendes Totengedenken und hält die Erinnerung an Krieg und Gewaltherrschaft für die nachfolgenden Generationen auf eindrückliche Weise wach. Adolf Guttentag und seine Frau teilten das grausame Schicksal mit unsäglich vielen weiteren Opfern.
Der Sohn Otto Guttentag hatte Medizin studiert und war seit 1927 Assistenzarzt in der Medizinischen Universitätsklinik Frankfurt bei Franz Volhard. Otto Guttentag erhielt von den Frankfurter Behörden zum 31. Mai 1933 eine fristlose Kündigung, da er nach der NS-Terminologie als „nicht arisch“ galt. Er verließ Deutschland noch im gleichen Jahr und fand in den USA / San Francisco einen neuen Tätigkeitsbereich.
Danksagung
Richard Brook, USA, gebührt großer Dank für seine Recherchen zur Familie Adolf und Helene Guttentag und für die großzügige Bereitschaft, auf seine Quellenarbeit zurückgreifen zu dürfen. Agnes und Nicki Stieda, Kanada, der Enkelin und Urenkelin Ernst Neissers, sei für wichtige Auskünfte zur Verbindung der Familien Neisser und Guttentag besonders gedankt.
Großen Dank an die Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung des Südwestkirchhofs Berlin-Stahnsdorf für die Hilfe beim Auffinden der Grabstellen.
Beitrag von
Dr. med. Cornelie Haag, Dresden
Dr. med. Harro Jenss, Worpswede
Stand 16.10.2025
Quellen und Literatur
zu den Quellen