Prof. Dr. med. Ismar Boas
- 28.03.1858, Exin, frühere Provinz Posen/heute Kcynia, Polen
- 15.03.1938, Wien
- Mitglied seit 1925
- Geflohen 1936, Österreich
- Berlin
- Niedergelassener Facharzt für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten
Ismar Boas wurde 1858 in Exin/Kcynia im früheren Regierungsbezirk Bromberg/Bydgoszcz, Polen, als Sohn des Kaufmanns Hermann Boas und seiner Ehefrau Rosette, geb. Moses, geboren. Er besuchte das Progymnasium in Nakel an der Netze/Naklo nad Notecią, Polen, und später, nach dem Umzug der Familie, das Gymnasium in Züllichau/Sulechów, Polen. Dort legte er 1877 die Reifeprüfung ab.
Ausbildung und Wirkungsstätte
Boas studierte sechs Semester Medizin in Berlin. Dort beeindruckte ihn der 30-jährige Dozent Carl Anton Ewald, der an der Berliner Universität Vorlesungen über Verdauungskrankheiten hielt und zur Magenphysiologie forschte. Ewald wird später für Boas weiteren beruflichen Weg prägend sein. 1880 wechselte Boas an die Universität Halle und verfasste dort auf Anregung des Leiters der Medizinischen Universitätsklinik Theodor Weber seine Dissertation „Ein Beitrag zur Lehre von der paroxymalen Hämoglobinurie“. Das Doktorexamen absolvierte er 1881. Danach wechselte er an die Universität Leipzig und legte dort 1882 das Staatsexamen ab.
Nach Examen und Approbation kehrte Boas nach Berlin zurück, ließ sich als praktischer Arzt in einem Außenbezirk Berlins nieder und nahm seinen früheren Kontakt zu Carl Anton Ewald wieder auf. Für diesen wurde Boas zum „Privatsekretär“ und „stillen Hilfsredakteur“ beim Redigieren der angesehenen Berliner Klinischen Wochenschrift, deren Schriftleiter Ewald war. Gleichzeitig forschte Boas gemeinsam mit Ewald zur Magenfunktion und publizierte 1885 und 1886 seine ersten Beiträge zur Physiologie und Pathologie der Verdauung im Archiv für Pathologische Anatomie und Physiologie und Klinische Medizin (Virchow Archiv).
Boas durchlief nie eine Klinikausbildung, sondern eignete sich seine Kenntnisse im intensiven Eigenstudium an. Er bildete sich konsequent in der anorganischen und organischen Chemie sowie in den damals möglichen Analysemethoden weiter. 1907 wurde ihm in Berlin wegen seiner Verdienste der Professorentitel verliehen. 1914 erhielt er den Titel Geheimer Sänitätsrat.
Begründung der Gastroenterologie
1886 eröffnete Ismar Boas in der Berliner Friedrichstraße eine Praxis und bezeichnete sich auf seinem Praxisschild als „Specialarzt für Magen- und Darmkrankheiten“. Verbunden mit der Praxis war eine Poliklinik für Magen- und Darmkrankheiten mit einem eigenen Labor. Mit dieser „Ein-Mann-Aktion“ begründete Boas das neue Fach Gastroenterologie weltweit. Boas’ Schritt in die konsequente Spezialisierung war umstritten. Sein Mentor Carl Anton Ewald, selbst ein Wegbereiter der Gastroenterologie, lehnte den Weg in das Spezialfach ab, da er die Spaltung der Einheit der Inneren Medizin und deren Zersplitterung befürchtete. Auch Adolf Kussmaul stand Boas’ Bestrebungen skeptisch gegenüber. Trotz aller Widerstände verfolgte Boas beharrlich, mit unermüdlichem Fleiß und höchstem Engagement sein Ziel der wissenschaftlichen und organisatorischen Weiterentwicklung der Gastroenterologie. Durch seine Fachbeiträge erzielte er rasch nationale und internationale Aufmerksamkeit.
1890 erschien sein Werk „ Allgemeine Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten nach dem heutigen Stand der Wissenschaft“, das er seinem Mentor Carl Anton Ewald widmete.
1893 folgte als zweiter Band „Specielle Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten“. Beide Bände erlebten bis 1925 neun Auflagen und wurden in andere Sprachen übersetzt. Er hielt in Berlin gezielte Fortbildungskurse im neuen Fachgebiet Gastroenterologie ab und prägte die ersten Generationen der frühen „Magen-Darm-Ärzte“. Er warb unermüdlich für das Fachgebiet, für ein hohes wissenschaftliches Niveau, für Offenheit für Neuentwicklungen und deren kritische Überprüfung. Boas publizierte zahllose Beiträge zu Einzelthemen: so führte er 1903 in Deutschland unter anderem den Begriff Colitis ulcerosa ein und veröffentlichte 1914 die „Lehre von den okkulten Blutungen“.
Er erkannte frühzeitig den diagnostischen Wert der Röntgenmethode zur Darstellung des Gastrointestinaltraktes sowie das Potential der zu seiner Zeit technisch noch unvollkommenen Gastroskopie.
In seinen beiden theoretische Schriften „Grundlinien der therapeutischen Methodik in der Inneren Medizin“, 1909, und in „Therapie und Therapeutik, Ein Mahnruf an Ärzte, Kliniker und Pharmakologen“, 1930, antizipierte er mit seinen Forderungen nach kritischer und kontrollierter Überprüfung neuer Methoden und Medikamente die heutigen Prinzipien evidenzbasierter Medizin.
1895 begründete der 37-jährige Boas die erste Fachzeitschrift für Gastroenterologie, das Archiv für Verdauungs-Krankheiten mit Einschluss der Stoffwechselpathologie und der Diätetik, dessen erster Band 1896 im Verlag von Samuel Karger erschien.
Boas war Herausgeber der Zeitschrift, redigierte sie bis 1933 und fand einen Kreis von Mitherausgebern, die in jener Zeit zu den führenden Gastroenterologen in Europa und in den USA zählten. Boas’ Lebenswerk spiegelt sich in den 54 Bänden des Archivs für Verdauungskrankheiten 1896 bis 1933 wider. Hier hat er seine grundlegenden Aussagen zum „Magen-Darmspezialismus“ niedergelegt und schuf mit dem „Boas-Archiv“ ein Forum zur Verbreitung des Spezialwissens aus den Fachgebieten Gastroenterologie, Hepatologie und Stoffwechselforschung.
Boas’ großes Anliegen war die Gründung einer eigenen Fachgesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten. Hierfür setzte er sich mit aller Konsequenz trotz vieler Widerstände ein. Gemeinsam mit dem Darmspezialisten Adolf Schmidt, Halle, mit Hugo Starck, Karlsruhe, der sich mit Oesophagus- und Magenkrankheiten befasste, mit dem nun überzeugten Carl Anton Ewald, Berlin, gelang es Boas unter Vermittlung des Bad Homburger Diätspezialisten Curt Pariser die Erste Tagung für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten im April 1914 in Bad Homburg zu organisieren. Der Erste Weltkrieg unterbrach die geplanten weiteren Tagungen und die internationalen Verbindungen. Der zweite Kongress fand daher erst im September 1920 erneut in Bad Homburg statt, bei der Boas selbst Tagungsvorsitzender war und eine programmatische Rede hielt. Die neue Vereinigung verstand sich als ausdrücklich interdisziplinär und supranational europäisch. Boas plädierte für eine enge Kooperation mit Chirurgen, Pharmakologen und Grundlagenwissenschaftlern wie den Physiologen und Biochemikern. Diese Ziele erklären die Vielfältigkeit in der Mitgliedschaft der Fachgesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten, die formal während der 5. Tagung in Wien Ende September 1925 mit Satzung, Geschäftsordnung und einem ersten Mitgliederverzeichnis (initial 150 Mitglieder) gegründet wurde. Ein Jahr später hatte sich die Mitgliederzahl auf 306 verdoppelt.
1927 wurde Ismar Boas in Würdigung seiner immensen Verdienste zum ersten Ehrenmitglied der Fachgesellschaft ernannt.
1933
Ende 1933 musste Boas aufgrund der NS-Gesetzgebung die Schriftleitung des Archivs für Verdauungs-Krankheiten abgeben. Er erlebte die zunehmenden antijüdischen Maßnahmen durch die regierenden Nationalsozialisten, die eigene Entrechtung und Demütigung. Die Zahl seiner Patienten in seiner Berliner Praxis hatte deutlich abgenommen.
Flucht nach Österreich 1936
Nach 54 Jahren intensiver und wegweisender Tätigkeit in Berlin sah sich Boas gezwungen, Deutschland zu verlassen. Er floh im Mai 1936 mit seiner Ehefrau Sophie, geb. Asch, nach Wien. Gleichwohl hegte er zu diesem Zeitpunkt noch die Hoffnung, nach Deutschland zurückkehren zu können. In Wien unterstützte ihn sein früherer Schüler Walter Zweig nach Kräften. Als die Deutsche Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte, entstand eine ausweglose Situation.
Ismar Boas nahm sich kurz vor seinem 80. Geburtstag am 15.03.1938 in Wien selbst das Leben.
Seine Grabstelle befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee und wird seit 1992 von der DGVS gepflegt.
Seine Ehefrau Sophie Boas, geborene Asch hatte für die Bestattung im Grab ihrer Familie in Berlin gesorgt. Sie selbst floh 1938 über die Schweiz in die Niederlande.
Im März 1943 wurde Sophie Boas in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und ermordet. Der Sohn Kurt Ferdinand Boas war seit 1924 als niedergelassener Facharzt für Dermatologie in Crimmitschau, Sachsen, tätig. Nach einer Denunziation wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet und befand sich vom April 1935 bis zum Dezember 1936 im Konzentrationslager Sachsenburg bei Chemnitz. Im Frühjahr 1937 lebte Kurt Ferdinand Boas nachweislich in Berlin; seit 1938 hielt er sich in Kolumbien auf (vgl. notariell beglaubigte Aussage seiner Mutter Sophie Boas vom 24.08.1938, Landesarchiv Berlin A Rep 341-04 Nr. 5018). Sein weiterer Lebensweg ist bisher nicht dokumentiert. Seit dem 09.11.2021 erinnert eine Gedenktafel in Crimmitschau am Haus seiner früheren Praxis an Dr. Kurt Ferdinand Boas.
Die Tochter Klara Schneider konnte gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Berliner Kinderarzt Kurt Werner Schneider, am 07.01.1939 von Rotterdam aus in die USA fliehen. Sie erreichten New York am 16.01.1939. Klara Schneider starb 1959 in New York. Beide Kinder Boas‘ hatten keine Nachkommen.
Nach einer Initiative der DGVS wurde 1992 zur Erinnerung an Ismar Boas eine Bronzetafel im Foyer der damaligen Klinik für Innere Medizin „Theodor Brugsch“ der Charité enthüllt: „Zur Erinnerung an Geheimrat Prof. Dr. med. Ismar Boas, den großen Forscher und Lehrer der Gastroenterologie“. Die Tafel – im Jahr 2000 wegen Umbauarbeiten abgehängt – konnte 2013 nach einer erneuten Initiative im Depot der Charité wiederaufgefunden und erneut aufgehängt werden. Sie befindet sich seither am Eingang zur Medizinischen Klinik, Schwerpunkt Gastroenterologie und Hepatologie, Campus Charité Mitte, Virchowweg 10.
Die DGVS verleiht während ihrer Jahreskongresse die Ismar Boas-Medaille und den Ismar Boas-Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Gastroenterologie.
Danksagung
Leonard Hoenig, USA, gebührt großer Dank für seine frühe umfassende Publikation zur Biographie von Ismar Boas und für zahlreiche Kontakte.
Beitrag von Dr. med. Harro Jenss, Worpswede