Dr. med. Siegbert Kamnitzer
- 13.10.1892, Dirschau, früheres Westpreußen, heute Tczew, Polen
- 19.10.1985, Hamilton, nahe Cincinnati, Ohio, USA
- Mitglied seit 1929
- Geflohen 1939, USA
- Danzig
- Facharzt für Innere Medizin
Siegbert Kamnitzer wurde 1892 als Sohn des Kaufmanns Wilhelm (Willi) Kamnitzer und dessen Ehefrau Emma, geb. Hirschfeld, im früheren westpreußischen Dirschau, unweit Danzigs an der Weichsel gelegen, geboren. Die Familie bekannte sich zur jüdischen Glaubensgemeinschaft.
„Ich habe die Oberrealschule zu St. Petri und Pauli in Danzig besucht, wo ich Ostern 1911 das Abiturientenexamen bestand. Ich bezog darauf die Universität Berlin, um Medizin zu studieren. Dort blieb ich bis Ende des Sommersemesters 1914. August 1914 trat ich als Kriegsfreiwilliger ins Heer ein und bin vom November 1914 bis November 1918 als Feldunter- bzw. Feldhilfsarzt im Felde als Truppenarzt tätig gewesen. Das Wintersemester 1918 / 19 habe ich in Königsberg Pr. zugebracht. Von da kam ich Februar 1919 nach Rostock, wo ich am 28. Juni 1919 das Staatsexamen bestand. Am 10. Juli 1919 erhielt ich die Approbation“ (Lebenslauf Siegbert Kamnitzer, Univ.Archiv Rostock).
Sein 1890 geborener Bruder, Dr. Bernhard Kamnitzer, war in Danzig / Gdansk bekannter Jurist, Rechtsanwalt, Repräsentant der jüdischen Gemeinde und als Mitglied der SPD Kämpfer gegen die Bestrebungen der NSDAP, in der freien Stadt Danzig, die dem Völkerbund unterstand, Anfang der 1930er Jahre an Einfluss zu gewinnen. Bernhard Kamnitzer war seit 1920 Mitglied des Danziger Volkstages (Parlament) und 1929 / 1930 Senator für Finanzen in Danzig. 1938 wurde er von den Nationalsozialisten kurzzeitig inhaftiert. Die Mutter Emma Kamnitzer starb im März 1939 in Danzig-Langfuhr.
Ausbildung und Wirkungsstätte
Im Februar 1919 konnte Kamnitzer an der Universität Rostock ein sogenanntes Zwischensemester (Kriegsnotsemester) für Kriegsteilnehmer absolvieren. Im August 1919 bestand er die mündliche Promotionsprüfung. Die Promotionsarbeit „Zur Frage der Wunddiphtherie“ fertigte er bei Theodor von Wasielewski im Institut für Hygiene der Universität Rostock an.
Nach dem Staatsexamen 1920 war Kamnitzer bis 1923 als Assistenzarzt und danach bis 1927 als Facharzt für Innere Medizin an der I. Medizinischen Klinik am Städtischen Krankenhaus Moabit in Berlin bei Georg Klemperer tätig. Die Klinik erhielt 1920 den Status der IV. Medizinischen Universitätsklinik Berlin. Kamnitzer nahm aktiv an der wissenschaftlichen Fortbildung teil, publizierte in der von Klemperer herausgegebenen Fachzeitschrift Therapie der Gegenwart und entwickelte gemeinsam mit dem Gynäkologen Siegbert Joseph eine Methode zur Erkennung der Früh-Schwangerschaft: Phloridzin-Test, „Maturin“ – Schwangerschaftsdiagnosticum nach Kamnitzer-Joseph.
Georg Klemperer, hoch angesehener Internist und Ärztlicher Direktor der I. Medizinischen Klinik Berlin-Moabit wurde 1933 als Jude entlassen. Er konnte 1937 in die USA fliehen. – Siegbert Joseph, seit 1927 Ärztlicher Leiter der neu geschaffenen selbständigen Geburtshilflich-Gynäkologischen Klinik am Krankenhaus Moabit wurde 1933 ebenfalls aus rassistischen Gründen von den NS-Behörden entlassen, war bis 1939 am Jüdischen Krankenhaus Berlin tätig, floh nach Riga, arbeitete dort als Arzt im jüdischen Ghetto und starb im Dezember 1944 im SS-Sonderlager Libau / Liepāja, Lettland, während eines sowjetischen Luftangriffs.
Im April 1922 heiratete Kamnitzer die 1889 geborene aus Hamburg stammende Henriette Henny Eber, verwitwete Bing. Im November 1922 wurde der Sohn Jürgen Peter Kamnitzer (seit 1941 in den USA Peter J. Kamnitzer) in Berlin geboren, im August 1924 die Tochter Hannelore.
1927 ließ sich Siegbert Kamnitzer als Facharzt für Innere Medizin in Danzig nieder. Erstmals wird er als niedergelassener Arzt in Danzig im Reichsmedizinalkalender 1928 erwähnt. Seine Praxis befand sich zunächst am Kasubischen Markt 11. Nach 1933 verlegte er die Praxis an den Karrenwall 3.
Nach 1933
Seit 1933 führte das Erstarken der NSDAP auch in der freien Stadt Danzig, die unter Aufsicht des Völkerbundes stand, zu einer zunehmenden Diskriminierung der Jüdinnen und Juden. Bereits im Mai 1933 wurde Kamnitzer die Funktion als Vertrauensarzt der Kaufmännischen Ersatzkrankenkasse entzogen. Ebenso verlor er 1933 die Funktion eines Vertrauensarztes verschiedener Versicherungsämter (vgl. E. Lichtenstein 1973, S. 159).
1935 erreichte die NSDAP bei den Danziger Volkstagswahlen einen Stimmenanteil von 59%. 1937 / 38 kam es in Danzig zu einer deutlichen Verschärfung der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sowie der politischen Opposition durch die Nationalsozialisten.
Am 28. September 1938 erhielten die Danziger jüdischen Ärzte den Bescheid, dass die Ausübung ihrer Praxis mit dem 1. Januar 1939 verboten sei und dass ihre ärztliche Approbation erlösche (vgl. S. Echt, S. 184).
Flucht nach England 1939 und in die USA 1941
Nach einer Warnung floh Siegbert Kamnitzer am letzten Dezembertag 1938 in das polnische Gdingen / Gdynia . Vier Wochen später folgte ihm seine Ehefrau mit den beiden Kindern. Im April 1939 übersiedelte die Familie von Gdingen zunächst nach England und konnte im Londoner Stadtteil Kensington Zuflucht finden. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 wurde Kamnitzer vorübergehend als Enemy Alien interniert, im Juli 1940 aber wieder entlassen.
Am 29. März 1941 gelangte die Familie von Liverpool aus mit der S.S. Morska Wola der Gdynia America Shipping Line nach New York. Nach Sprachprüfungen und Ablegen des amerikanischen Staatsexamens erhielt Kamnitzer in New York im April 1943 eine Lizenz zum Führen einer Privatpraxis Er war frühzeitig im Outpatient Department des Mount Sinai Hospitals New York als Clinical Assistant, später als Senior Clinical Assistant tätig. Nach 1945 wurde Kamnitzer Vertrauensarzt des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in New York
1946 erhielten er und seine Familienangehörigen die US-Staatsbürgerschaft.
Siegbert Kamnitzer starb 1985 93-jährig in Hamilton, einem Ort nahe Cinncinati / Ohio. – Seine Ehefrau Henny Kamnitzer war im Mai 1959 gestorben. Ihre Grabstelle findet sich auf dem Ferncliff Cemetery in Hartsdale / Greeburgh, Westchester County, etwa 40 km nördlich von Manhattan, im Bundesstaat New York.
Die Tochter Hannelore Kamnitzer-Yager verstarb 1961 36-jährig in Security-Widefield, El Paso County, Colorado. – Der Sohn Peter Kamnitzer war ein begabter Musiker, spielte seit der Kindheit Geige und war als Jugendlicher Mitglied im Danziger Orchester des Jüdischen Kulturbundes. Mit den Eltern floh er 1939 nach England und 1941 in die USA. Nach weiterer Ausbildung war Peter Kamnitzer als Bratschist vier Jahrzehnte Mitglied im LaSalle Quartett, zudem unterrichtete er am College-Conservatorium of Music, University of Cincinnatii, Violine und Viola und lehrte Musikgeschichte. Er starb 93-jährig im Februar 2016 in Israel.
Der Bruder Dr. jur. Bernhard Kamnitzer floh 1938 aus Danzig zunächst nach England und gelangte im April 1939 von Liverpool aus nach New York. Hier engagierte er sich u. a. in der Beratung für Jüdinnnen und Juden, die Wiedergutmachungsansprüche an die Bundesrepublik Deutschland geltend machten. Bernhard Kamnitzer starb 1959 in New York.
Siegbert Kamnitzers 1897 geborene Schwester Margarete, verheiratete Beck, floh 1939 zunächst nach England und im Oktober 1939 in die New York / USA. Sie starb 1980 in New York.
Beitrag von Dr. med. Harro Jenss, Worpswede
Quellen:
Universitätsarchiv Rostock: Akta betr. Ärztliche Prüfung des Studierenden Siegbert Kamnitzer, 1918 / 1919, Ärztliche Prüfungskommission [ darin handschriftlicher Lebenslaufund ] und Dekanat Medizinische Fakultät Universität Rostock 1919 / 1920 betr. Promotion approbierter Arzt Siegbert Kamnitzer einschließlich Briefwechsel 1938 / 39
Samuel Echt – Bernhard Kamnitzer Collection Leo Baeck Institute, LBI / Center of Jewish History, CJH: AR 7016 / MF 569
Reichsmedizinalkalender 1928 und 1937
Entschädigungsbehörde Rheinland-Pfalz / Amt für Wiedergutmachung, Saarburg, Entschädigungsakte Dr. med. Siegbert Kamnitzer, Reg. Nr. 42 133
Literatur
Annual Reports 1942 – 1945 of the Mount Sinai Hospital New York / heute Icahn School of Medicine at Mount Sinai New York, S. 191 ff ( Medical Staff, Out Patient Department ), Arthur H. Aufses, Jr.,MD, Archives.
Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933–1945, [ Hg ] Werner Röder, Herbert A. Strauss, Institut für Zeitgeschichte, Research Foundation for Jewish Immigration, New York. Band 1 , München: K. G. Saur Verlag 1999, S. 346
Burckhardt C J. Meine Danziger Mission 1937-1939. München: Verlag Georg D. W. Callway 1960 (Kap. VI Der antisemitische Terror), Seite 192-224, bes. Seite 195.
Echt S. Die Geschichte der Juden in Danzig. Leer: Verlag Gerhard Rautenberg 1972, S. 138, 177, 184
Lichtenstein E. Die Juden in Danzig 1933 – 1939. Zeitschrift für die Geschichte der Juden 1967; 4: 199 – 217
Lichtenstein E. Die Juden der Freien Stadt Danzig unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Schriftenreihe der wissenschaftlichen Abhandlungen des Leo Baeck Institutes New York, Band 27. Tübingen: J.C.B. Mohr Verlag 1973, S. 159
Pross Ch., Winau R [ Hg. ] Nicht mißhandeln. Das Krankenhaus Moabit. 1920-1933: Ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin. 1933-1945: Verfolgung, Widerstand, Zerstörung. Berlin: Edition Hentrich 1984, S. 163
Weblinks
http://purl.uni-rostock.de/matrikel/200016042
https://archive.org/details/annualreport1950moun/page/150/mode/2up?q=Kamnitzer [ Annual Report 1950 by Mount Sinai Hospital New York / Icahn School of Medicine at Mount Sinai. Arthur H. Aufses,Jr.,MD, Archive ], Stand 25. 5. 2024
https://www.jewishgen.org/danzig/usacommittee.php [ Free City of Danzig Citizens Committee in the United States of America 1941-1942 ], Stand 16.7.2024
Recherche zu Passagierlisten Europa / USA, Einbürgerungsdokumenten in den USA und in den online -Datenbanken englischer Archive über www.ancestry.de, www.familysearch.org und www.myheritage.de
https://www.coloradohistoricnewspapers.org/?a=d&d=FVN19610505-01.2.45&e=——-en-20–1–img-txIN%7ctxCO%7ctxTA——–0—— [ The Fountain Valley News 1961; Vol.IV, Nr.17, May 5, S.12, Obituary Hannelore Yager-Kamnitzer ], Stand 27.5.2024
https://ccmpr.wordpress.com/2016/02/26/in-memoriam-emeritus-faculty-member-and-lasalle-quartet-violist-peter-kamnitzer/ [ Würdigung Peter Kamnitzers durch Curt Whitacre, Cincinnati College-Conservatorium of Music, Uinversity of Cincinnati ], Stand 25. 5. 2024
https://www.thestrad.com/lasalle-quartet-violist-peter-kamnitzer-has-died-aged-93/3474.article, Stand 25.5.2024