Eine Erinnerungsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten
In Erinnerung an

Dr. med.
Julian Kretschmer
1881 - 1948

Dr. med. Julian Kretschmer 1938 © Gesine A. Janssen
Dr. med. Julian Kretschmer 1938 © Gesine A. Janssen

Mitglied seit 1927

Pomotion in Breslau 1907

1919 erster Spezialarzt für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten in Nordwestdeutschland

Dissertation 1907, Kopie Titelblatt, Archiv H Je
Dissertation 1907, Kopie Titelblatt, Archiv H Je
Praxisanzeige © Gesine A. Janssen
Praxisanzeige © Gesine A. Janssen
Streichung Kretschmers aus der DGVS Mitgliederliste 1932/33, Archiv DGVS
Streichung Kretschmers aus der DGVS Mitgliederliste 1932/33, Archiv DGVS

Dr. med. Julian Kretschmer

  • 1‌5‌.‌0‌9‌.‌1‌8‌8‌1‌, Leobschütz früheres Schlesien/heute Głubczyce, Polen
  • 1‌6‌.‌0‌6‌.‌1‌9‌4‌8‌, Petach Tikwa, Israel
  • Mitglied seit 1927
  • Geflohen 1939, Palästina
  • Emden
  • Facharzt für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten einschließlich Röntgendiagnostik

Julian Kretschmer wurde als Sohn des Kaufmanns Ferdinand Kretschmer und seiner Ehefrau Goldine, geb. Freund, geboren. „Ich, Julian Kretschmer, preuss. Staatsangehöriger, Jude, wohnhaft zu Breslau [heute Wrocław, Polen, Anm. H Je], wurde geboren am 15. September 1881 zu Leobschütz. Ich besuchte das Königl. König-Wilhelms-Gymnasium zu Breslau, das ich Ostern 1901 mit dem Zeugnis der Reife verliess. Darauf studierte ich Medizin und zwar zunächst 4 Semester in Breslau, darauf 1 Semester in Freiburg und schließlich wieder 4 Semester in Breslau. Das Staatsexamen beendete ich im Februar 1906“, so im Lebenslauf in Kretschmers Dissertationsschrift. Die ärztliche Approbation erhielt er ebenfalls 1906. 1907 wurde er in Breslau mit der Arbeit „Die Geburten bei engem Becken in den Jahren 1897/98 bis 1899/1900“ promoviert, die er in der Königlichen Universitäts-Frauenklinik Breslau angefertigt hatte.

Dissertation 1907, Kopie Titelblatt, Archiv H Je
Dissertation 1907, Kopie Titelblatt, Archiv H Je

 

Ausbildung und Wirkungsstätte

Seit 1907 erhielt Julian Kretschmer eine internistische Ausbildung in der Berliner Poliklinik und Privatklinik von Prof. Albert Albu mit einem frühzeitigen Schwerpunkt für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten. Albert Albu war in jener Zeit neben Ismar Boas, Hermann Strauß und Theodor Rosenheim einer der führenden und frühen Gastroenterologen in Berlin und einer der Mitbegründer der Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten. Kretschmer arbeitete neben der klinischen Tätigkeit experimentell bei Ernst Salkowski in der physiologisch-chemischen Abteilung des Instituts für Pathologie der Charité Berlin. 1910 betraute Albu ihn mit dem Aufbau einer Röntgenabteilung im St. Franziskus Krankenhaus in Berlin, in dem Albert Albu für die Abteilung Innere Medizin tätig war.

Kretschmers Lehrer und Mentor, Archiv H Je
Kretschmers Lehrer und Mentor, Archiv H Je

1913 heiratete Kretschmer die aus Emden, Ostfriesland, stammende Kaufmannstochter Elsbeth Valk (geb. 1891). Im Jahr darauf wurde die Tochter Ruth geboren. Am Ersten Weltkrieg nahm Julian Kretschmer aktiv von 1914 bis 1918 teil.

Der Erste Weltkrieg und dessen Folgen bedeuteten wie für viele andere für Kretschmer eine tiefe Zäsur. In Berlin sah er für sich keine Aussichten auf eine klinisch-wissenschaftliche Karriere. Er wechselte mit Unterstützung seiner Schwiegereltern Valk in den Geburtsort seiner Ehefrau nach Ostfriesland. Jakob und Betti Valk führten in Emden ein bekanntes Kaufhaus. In Emden eröffnete Kretschmer als niedergelassener Arzt 1919 die in Nordwestdeutschland erste Spezialpraxis für Magen-, Darm- und Stoffwechselkrankheiten einschließlich einer Röntgendiagnostik. Die Praxis entwickelte sich aufgrund der Spezialisierung und Expertise Kretschmers äußerst erfolgreich und verfügte sehr rasch über einen großen Einzugsbereich über die Grenzen Ostfrieslands hinaus.

Praxisanzeige © Gesine A. Janssen
Praxisanzeige © Gesine A. Janssen
Julian Kretschmer in seiner Emdener Praxis in den 1920er Jahren © Gesine A. Janssen
Julian Kretschmer in seiner Emdener Praxis in den 1920er Jahren © Gesine A. Janssen

 

Nach 1933

Seit dem Frühjahr 1933 erlebte Kretschmer mit seiner Familie die antisemitischen Anfeindungen und die Verfolgungen während der NS-Diktatur. 1934 verlor er seine Kassenzulassung. 1937 floh die 23-jährige Tochter Ruth nach Palästina. Im Juni 1938 wurden die Konten des Ehepaares Kretschmer auf Anordnung der Zollfahndungsstelle Bremen gesperrt. Im Juli 1938 gab Kretschmer seine Praxis und Wohnung am Emder Schweckendieckplatz auf und zog mit seiner Ehefrau in das Haus seiner Schwiegereltern Valk in die Neutorstrasse 14. Mit dem 30.09.1938 wurde Julian Kretschmer die Approbation als Arzt entzogen.

Streichung Kretschmers aus der DGVS Mitgliederliste 1932/33, Archiv DGVS
Streichung Kretschmers aus der DGVS Mitgliederliste 1932/33, Archiv DGVS
Reichmedizinalkalender 1937, Kopie Archiv H Je
Reichmedizinalkalender 1937, Kopie Archiv H Je

Im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938 wurde Kretschmer im KZ Sachsenhausen bis zum 16.12.1938 inhaftiert.

 

Flucht nach Palästina

Anfang 1939 flohen Julian Kretschmer und seine Ehefrau aus Deutschland. Sie hatten vorher eine „Judenvermögensabgabe“ sowie die „Reichsfluchtsteuer“ entrichtet. Palästina erreichte das Ehepaar Kretschmer am 27.02.1939. Dort lebten sie unter äußerst bescheidenen Verhältnissen. Der Lebensunterhalt musste durch Gelegenheitsarbeiten bestritten werden. Eine Lizenz zur ärztlichen Tätigkeit erhielt Julian Kretschmer erst 1943, konnte diese jedoch nur in sehr begrenzten Umfang betreiben. 1944 musste er den Ort der Praxis von Raʿanana in die Siedlung Kfar Felix Warburg verlegen. Die finanzielle Situation des Ehepaars Kretschmer blieb prekär.

Kretschmer beteiligte sich im März 1940 an dem wissenschaftlichen Preisausschreiben der Harvard Universität, Cambridge, Massachusetts, mit dem Titel „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“. Der Preis war für deutsche Emigrantinnen und Emigranten 1939 ausgeschrieben worden und wandte sich an alle, „die Deutschland vor und während Hitler gut kannten“. 180 Manuskripte erfüllten die zugrunde gelegten Kriterien. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lebten 1939 überwiegend in den USA, 20 der am Preisauschreiben Beteiligte lebten in Palästina. Die Typoskripte, u. a. jene der Ärztinnen Käte Frankenthal und Hertha Nathorff, die sich ebenfalls an dem Preisausschreiben beteiligten, werden in der Houghton Library der Universität Harvard bewahrt. Kretschmers autobiographische Aufzeichnungen geben einen umfassenden Einblick in sein Erleben der Verhältnisse in Deutschland während des Kaiserreiches, in der Zeit der Weimarer Republik und vor allem nach Beginn der NS-Diktatur einschließlich seiner Flucht nach Palästina 1939. Kretschmers’ Zeitzeugenbericht, der vor der Shoa verfasst wurde, beschreibt sehr genau neben seinem beruflichen Weg den Alltag unter der NS-Herrschaft, den zunehmenden Antisemitismus sowie die Einstellungen seiner Kolleginnen und Kollegen und der Patienten.

Julian Kretschmer starb am 16.06.1948 in Petach Tikwa in Folge einer Tumorerkrankung.

Seine Ehefrau Elsbeth Kretschmer verließ Israel im September 1953, lebte einige Jahre in Frankfurt a. M. im jüdischen Altersheim in der Gagernstraße 36 und kehrte vor ihrem Tod zu ihrer Tochter nach Israel zurück. Sie starb im Januar 1964 in der Nähe Tel Avivs.

Die 1875 geborene Schwester Julian Kretschmers, die Lehrerin und Schriftstellerin Dr. phil. Elisabeth (Ella) Kretschmer, lebte in Berlin und wurde im Februar 1943 mit dem 30. „Ost-Transport“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Kretschmers Schwiegermutter, Betti Valk, wurde 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sie starb im Ghetto 82-jährig im Januar 1945.

Danksagung

Großer Dank gebührt posthum Gesine Anna Janssen (1948 – 2022), Uttum – Krummhörn, Ostfriesland, für ihre umfassende Beschäftigung mit der Biografie der Familie Kretschmer-Valk, für ihre vielfältigen Hinweise und für die gemeinsamen Gespräche 2014/15. Vor allem hat sie Kretschmers Manuskript, mit dem er sich im März 1940 an dem Preisausschreiben der Harvard Universität beteiligte, ausgezeichnet ausgewertet, weitgehend öffentlich zugänglich und zur Grundlage für die Erinnerung an Julian Kretschmer gemacht.


Quellen und Literatur
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Quellen/Literatur/Weblinks

Biografie von Dr. med. Julian Kretschmer

Verzeichnis der Quellen

  • Kretschmer J. Die Geburten bei engem Becken in den Jahren 1897 / 98 bis 1899 / 1900. Dissertation, Breslau 1907. Staatliche Bibliothek Berlin-Preußischer Kulturbesitz, SBB-PK, Sign Ja 4722 – 1907,1 , Lebenslauf, S. 40 f.
  • Niedersächsiches Landesarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc. 3 / 98 Nr. 59 ( Kretschmer, Elsbeth geb. Valk ) und Nds. 110 W Acc. 3 / 98 Nr. 60 ( Kretschmer, Julian, Dr. ), Entschädigungsakten
  • Staatsarchiv Bremen / StAB 4.54 Rü 6245 und 4.54 Ra 915 ,Rückerstattungsakten, Elsbeth Kretschmer, geb. Valk

Verzeichnis der Literatur

  • Garz D. Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. Das wissenschaftliche Preisausschreiben der Harvard Universität und seine in die USA emigrierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem deutschen Sprachraum. In: Spalek J M, Feilchenfeldt K, Hawrylchak S H [ Hg ], Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Band 3, USA, Teil 5, S. 305-333
  • Garz, D. Janssen, G. Über den Mangel an Charakter des deutschen Volkes. Zu den autobiographischen Aufzeichnungen des jüdischen Arztes Dr. Julian Kretschmer aus Emden. Oldenburgische Beiträge zu jüdischen Studien, Band 18. Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2006
  • Jenss H. Wider das Vergessen. Stolperstein für Dr. med. Julian Kretschmer und seine Familie. Niedersächsisches Ärzteblatt 2014; 87 ( Nr.12 ): 25
  • Janssen G. (Hg.), Deutschland lag hinter uns. Dr. Julian Kretschmer, Emden:“Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933“, Schriftenreihe des Stadtarchivs Emden, Bd. 16, Druckkontor Emden, 2018
  • Garz D. Von den Nazis vertrieben. Autobiographische Zeugnisse von Emigrantinnen und Emigranten. Das wissenschaftliche Preisausschreiben der Harvard Universität aus dem Jahre 1939. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich 2021.

Verzeichnis der Weblinks

  • https://www.emden.de/fileadmin/media/stadtemden/PDF/Stolpersteine/neu/sept_14/kretschmer_julian_september_14.pdf , Stand 30.6.2023
  • https://www.mwg-emden.de/?Vorträge:2015_Dr._Kretschmer_Arzt [ Jenss, H. , Zur Ausbildung Julian Kretschmers in Berlin bei Albert Albu 1907 – 1914 ], Stand 30. 8. 2021
  • https://www.archives.gov.il/en/archives/Archive/0b07170680034dc1/File/0b07170680b31f37 , Stand 30.6.2023
  • https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/127212321?s=Kretschmer%201875&t=228866&p=0 , Stand 30. 6. 2023
  • https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&s_id=&s_lastName=Valk&s_firstName=Betty&s_place=berlin&s_dateOfBirth=&cluster=true, Stand 30.6.2023